Das Recht der Ungehorsamen

 Eine Welt, die Platz für die Öffentlichkeit haben soll, kann nicht nur für eine Generation errichtet oder nur für die Lebenden geplant sein; sie muss die Lebensspanne sterblicher Menschen übersteigen.

 

(Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich, 2002, S. 68.) 


Von Kiara FranCke

 

Das Recht der Ungehorsamen.

 

Er flutet uns täglich, der Protest. Kämpft sich auf die flimmernden 20-Uhr-Bildschirme, tritt eine digitale Solidaritätswelle in Gang, stanzt seine Forderungen auf’s raschelnde Zeitungspapier. Der Protest schreit in Megaphone, stürmt Bühnen vor dem Brandenburger Tor, versammelt Menschenmassen, setzt sie in Bewegung. Der Protest ist laut. Und er will gesehen werden. Das hat er so an sich. Auf den Straßen des Irans, wenn aus offenen Fenstern Widerstandsparolen gerufen werden und Frauen ihre Kopftücher lüften, während sie erhobenen Hauptes die Straße entlang spazieren, wissentlich, dass dies womöglich ihr letzter Moment in Freiheit sein mag. In den amerikanischen Städten, nachdem struktureller Rassismus und Polizeigewalt einen Namen (George Floyd), letzte Worte (I can’t breathe) und Hashtag (#BlackLivesMatter) erhalten haben und sich Massen mobilisieren, die ihrer Trauer und Wut in Demonstrationszügen und Gedenkfeiern Ausdruck verleihen. Auf dem Boden Lützeraths, über Braunkohle und 280 Millionen Tonnen CO2, wenn Bäume besetzt werden, und Menschenketten gebildet, wenn Pyrotechnik geworfen wird und zwischen den rotgrünen Rauchschwaden Schlamm fliegt. Der Protest ist eine unabdingbare Substanz unserer Demokratie, ein Zeichen unserer Freiheit. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit werden uns vom Grundgesetz garantiert. Was in Deutschland, insbesondere für junge Menschen, selbstverständlich scheinen mag, ist jedoch das Ergebnis jahrzehntelanger, erbitterter Kämpfe. Die heute geltende Gesetzgebung verdanken wir in großem Maße unterschiedlichsten Aktivist*innen: Und ihrem Protest. Theoretische und praktizierende Menschenrechtsaktivisten wie Martin Luther King, Mahatma Gandhi oder Rosa Parks verschafften dem gewaltlosen Widerstand als politische Protestform weltweite Anerkennung. 


Antigone, gespielt im Burgtheater 2015
Antigone, gespielt im Burgtheater 2015

Was wir heutzutage als „zivilen Ungehorsam“ bezeichnen, hat jedoch eine weitaus ältere Geschichte. Bereits die mythologische Figur Antigone, die Sophokles griechischer Tragödie, circa 400 v. Chr., entstammt, entschied sich in einer ethisch unvertretbaren Situation gegen die damals herrschende Gesetzgebung und für ihr moralisches Bewusstsein. Für ihre mutige und menschliche Entscheidung, mit der sich Antigone selbst gefährdete, wurde sie in der Antike gefeiert.

 

Aktuell steht es um das Image des zivilen Ungehorsams etwas anders. Spätestens seit die Klimabewegung „Letzte Generation“ in Deutschland Straßenblockaden organisiert, Bürger*innen auf dem Weg zur Arbeit in den Wahnsinn treibt und für mediales Aussehen sorgt, steht die Frage nach den Grenzen des Protests in etwaigen diskursiven Räumen. Dabei belegen Datenauswertungen, dass Kampagnen des friedlichen zivilen Widerstands in der Vergangenheit doppelt so erfolgreich waren wie gewaltvolle Methoden.Außerdem spielte ziviler Widerstand  in mehr als 70 Prozent aller Fälle, in denen Diktaturen gestürzt und Demokratien erkämpft wurden, eine entscheidende Rolle. Dies zeichnet ihn zwar nicht automatisch als Allheilmittel aus, doch die Fakten demonstrieren, dass er als Protestmittel rein strategisch betrachtet sinnvoll ist. Rechtlich befindet sich ziviler Ungehorsam in einer Grauzone. Zwar ist da das im Grundgesetz verankerte Widerstandsrecht, welches Bürger*innen erlaubt, sich dem Gesetz zu widersetzen, vorausgesetzt es herrscht ein Ausnahmezustand, welcher die Verteidigung der demokratischen und menschenrechtlichen Werte verlangt. Doch auch wenn ziviler Ungehorsam als solcher weder Straftat noch Ordnungswidrigkeit darstellt, können konkrete Rechtsverletzungen dennoch strafrechtlich sanktioniert werden. 

 

 

Jürgen Habermas
Jürgen Habermas

Als Philosoph und Soziologe definiert Jürgen Habermas (*1929) den zivilen Ungehorsam als moralisch begründeten Protest, der über private Interessen hinaus gehe und als öffentlicher Akt bewusst einzelne Rechtsnormen verletze, ohne jedoch den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im Allgemeinen zu verweigern. Da ziviler Ungehorsam laut Habermas von symbolischem Charakter geprägt sei, begrenze er sich ausschließlich auf gewaltfreie Mittel des Widerstands. Sowohl aus rechtlicher als auch aus ethisch-philosophischer Perspektive kann aktivistischem Klima-Protest also nicht allzu viel vorgeworfen werden, solange sich die jeweiligen Aktionen im gewaltfreien Rahmen bewegen. Sie dienen dem Allgemeinwohl, der Zukunft unserer Gesellschaft und dem Schutze der Grund- und Menschenrechte. Dass Stau unfassbar nervenaufreibend sein kann, Baumhäuser auf dem Privatgrundstück eines Großkonzerns Polizeikräfte verärgern und Hungerstreiks in der Bevölkerung für Unverständnis sorgen, ist durchaus nachvollziehbar – aber weder gewaltvoll, noch eine Gefährdung der gesetzlichen Grundordnung. Ziviler Ungehorsam polarisiert, so viel steht fest. Radikalere Protestformen, die über angemeldete Demonstrationszüge und eifrige Petitionen hinausgehen, rücken den gesellschaftlichen Diskurs ins Rampenlicht. Besser: Sie knipsen sämtliche Alarmlichter an. Natürlich lässt sich nun fragen: Muss das sein? So radikal und emotionalisierend? Wenn Klimaaktivist*innen sagen: „Hier gibt es nichts zu diskutieren – Klimaschutz ist nicht verhandelbar: Mittelwege sind inakzeptabel, Wohlfühl-Maßnahmen nicht länger drin. Jetzt heißt es kämpfen oder verlieren, Zukunft oder Keine-Zukunft“, dann haben sie nicht Unrecht.

 

Hannah Arendt
Hannah Arendt

Erst im Jahr 2021 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass fehlender Klimaschutz die Freiheitsrechte junger Menschen verletze. Positiv formuliert: Klimaschutz ist ein Grundrecht. Wenn die jüdische  Theoretikerin Hannah Arendt (1906-1975) von der „Freiheit, frei zu sein“ spricht, dann geht es exakt darum: Individuelle Freiheit lässt sich nur leben, wenn die kollektiven, äußeren Umstände es gewähren. Freisein, das bedeutet Sein ohne Furcht und Not. Das Fundament bildet hierbei eine intakte, sichere Umwelt. Und diese müssen wir uns selbstbewusst erkämpfen. Dass ziviler Widerstand die Dringlichkeit des Klimaschutzes und die akute Furcht der jungen Generation lautstark an die Politik adressiert, ist erst einmal wichtig und richtig. Doch das Alarmieren allein reicht nicht. Stattdessen erfordert Klimaschutz unfassbar viel Dialog. Gelingt es zivilem Ungehorsam, die nötigen Gespräche endgültig in (schnellen) Gang zu setzen, scheint er ein angemessenes Protestmittel zu sein. Verhindert er diese Gesprächsebene und schließt den gesellschaftlichen Diskurs, droht er das eigentliche Ziel zu verfehlen. Denn Veränderung lässt sich in einer Demokratie, anders als das in autokratischen Regimen der Fall sein mag, nun mal einzig gemeinschaftlich und demokratisch lösen.

 

 

 

Wie müssen wir uns also zu den politisch Verantwortlichen positionieren, um als Zivilgesellschaft effektiven Handlungsdruck auszuüben? Wie können wir energisch das Recht auf Leben einfordern, welches vom Klimawandel fraglos massiv bedroht wird? Und wie schaffen wir es, Menschenrechte gewaltfrei und dennoch kompromisslos zu verteidigen? Noch bleiben diese Fragen unbeantwortet. Klar ist jedoch: Wir müssen dringend Antworten finden.

weiterführende Infos

Mit zivilem Ungehorsam für Klimagerechtigkeit.

 

Proteste wie die der "Letzten Generation" sorgen für Aufmerksamkeit und Unmut. Ist ziviler Ungehorsam in einer Demokratie zulässig oder sogar notwendig?

 

Eine Dokumentation des ZDF

 

Videolänge: 28 min 

Datum:19.05.2023 :UT