Selbstbestimmung

Ich wusste nicht, dass es Wörter gibt, die töten können, mörderische Wörter.

 

Noëlle Châtalet, Mit dem Kopf zuerst


Felix Heinzelmann und Samuel Hentsch

Noëlle Châtalets Roman „Mit dem Kopf zuerst“ widmet sich der Geschichte einer inter* Person namens Paul. Das „mörderische“ Wort ist für Paul der Begriff „Pflicht“. Seine Mutter hatte ihm gesagt: „Im Gymnasium sind Röcke Pflicht“. Paul fühlt sich gedemütigt, Paul ist nämlich keine Frau, sondern identifiziert sich als Mann. Was ihn demütigt, ist die fremdbestimmte Zuordnung durch andere in ein bestimmtes Geschlecht, ein Gedrängt-Werden in eine bestimmte Geschlechterrolle. Er empfindet Scham, wenn er von anderen als Mädchen gelesen wird, sowie Angst und Panik davor, auf der Straße erkannt oder angehalten zu werden. Der Rock wird im Roman zum Symbol für das "Misgendering":

 

„Ich reiße mir den Rock vom Leib und werfe ihn unters Bett, aber eine ganze Weile noch spüre ich auf den Beinen, auf der Haut die Demütigung.“

 

 

Intergeschlechtliche (oder auch inter*) Menschen haben körperliche Geschlechtsmerkmale, die sich nicht als nur männlich oder nur weiblich einordnen lassen. Man spricht auch von angeborenen Variationen der körperli-chen Geschlechtsmerkmale. Das betrifft zum Beispiel die Geschlechtsorgane, Hormonproduktion oder den Chromosomensatz, die Figur, Haarverteilung oder Muskelmasse.“ (Regenbogenportal: https://www.regenbogenportal.de/infoartikel/inter-was (zuletzt eingesehen am 24.07.23)).

 

Misgendern bedeutet, dass eine Person einem falschen Geschlecht zugeordnet und/oder über sie mit dem falschen Pronomen geredet wird. (Queer-Lexikon: https://queer-lexikon.net/2020/04/29/misgendern/ (zuletzt eingesehen am 24.07.23)).


Wie für Paul, der überglücklich ist, als er als ‚Herr‘ angesprochen wird und das Pronomen ‚er‘ verwendet wird , ist die Verwendung des gewünschten Namens und der gewünschten Pronomen auch für die meisten TIN* Personen sehr wichtig.

 

Für Betroffenen trans*, inter* und nicht-binäre Menschen ist es besonders schwierig, „ihre Rechte auch wahrnehmen zu können“, weil „[d]ie Geschlechtsidentität [...] bisher in keinem menschenrechtlich verbindlichen [...] Vertrag genannt [ist]“ .

 

Die Vornamens- und Personenstandsänderung zählt zu den Rechten auf Schutz der Privatsphäre und der freien Entfaltung der Persönlichkeit . Die „rechtliche Nicht-Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität“ verletzt die Menschen in ihrer Würde. Das Transsexuellengesetz (kurz TSG), das seit 1981 besteht, macht es trans* Menschen trotz kleiner Änderungen leider immer noch enorm schwer, ihren Vornamen und Geschlechtseintrag rechtlich ändern zu lassen.

 

Bis 2008 musste man entweder ledig sein oder sich scheiden lassen. Bis 2011 mussten sich Personen, die ihren Vornamen sowie ihren Geschlechtseintrag ändern lassen möchten, noch zu einer Sterilisation und zu einer operativen Geschlechtsangleichung nötigen lassen (vgl. Jakobs & Wolf 2023, S.36).  Dabei hat doch jeder Mensch das Recht auf Selbstbestimmung. Somit wird auch dieses Menschenrecht durch das TSG, so wie es aktuell besteht, verletzt – denn es handelt sich durch und durch um einen fremdbestimmten Prozess (vgl. Jakobs & Wolf 2023, S.32): Zwei psychiatrische Gutachten sind für die Änderung nötig. Dabei werden „[l]auter grotesk schlimme Fragen“ (Jakobs & Wolf 2023, S.32) von den Gutachter*innen gestellt, um die Geschlechtszugehörigkeit zu beweisen. Die „Gespräche mit den Gutachter*innen werden von vielen trans* Menschen als belastend, demütigend und oft retraumatisierend empfunden. Viele berichten davon, dass sie bei der Begutachtung sehr intime Fragen, zum Beispiel zu ihrem Masturbationsverhalten, beantworten müssen - oder sich gar ausziehen mussten“ (Giese 2023, S.57 f.). Am Ende entscheidet das Amtsgericht darüber, ob dann auch gestattet wird, offiziell in seinem Geschlecht zu leben. 

 

Dieser ganze Prozess kann bis zu einem guten Jahr andauern. Die lange Wartezeit ist für trans* Menschen sehr belastend und entwürdigend, wie auch Jakobs sagt: „Das ewige Warten hat mich fertig gemacht. Ich hatte so lange gegrübelt, gelitten, endlich die Entscheidung getroffen und dann sagen Staat und die Krankenkasse: ‚Ha, nein! Wir haben da auch noch ein Wörtchen mitzureden!‘“ (Jakobs & Wolf 2023, S.32). Das TSG ist aus menschenrechtlicher Perspektive verfassungswidrig und sollte endlich abgeschafft werden. Nach der derzeitigen rechtlichen Situation ist alles, was den TIN* Menschen bleibt, „[d]er Wunsch nach Selbstbestimmung“ (Giese 2023) und einem Gesetz, das die menschenrechtliche Lage von TIN* Personen verbessert.

 

TIN* steht für trans*, inter*, nicht-binär*. „Trans ist ein Überbegriff für transsexuelle, transidente und trans-gender Menschen, also für alle Menschen, die nicht das Geschlecht sind, dem sie bei der Geburt zugewiesen wurden.“ „Nichtbinär [...] ist ein Überbegriff für alle Menschen, die weder männlich noch weiblich sind. Sie können sich z.B. zwischen diesen beiden Geschlechtern verorten, oder ganz außerhalb davon, oder auch gar kein Geschlecht haben (agender).“ (Queer-Lexikon: https://queer-lexikon.net/uebersichtsseiten/trans/ (zuletzt eingesehen am 24.07.23)).