sonderausstellungsbereich: Der Faden


Kunstvideo: "Am seidenen FAden hängen"

Ein Video von Kiara Francke und Luisa Ostenrieder (Universität Konstanz).

 

Die Arbeiten an dem Video wurden koordiniert von Prof. Elena Theodoropoulou, Direktorin des „Laboratory of Research on Practical Philosophy“/Universität der Ägäis. Das weiter ausgearbeitete Video wird in der Ausstellung „Philosophical Objects“ während der bevorstehenden 3. Internationalen Biennale für praktische Philosophie („Laboratory of Research on Practical Philosophy“, Universität der Ägäis) präsentiert.


Der Faden – ein Gedankenexperiment von Kiara Francke und Luisa Ostenrieder

In Donna Haraways Theorie des Fadenspiels findet unser Gedankenexperiment seinen Anfang. Haraway schreibt, „Fadenspiele sind wie Geschichten. Sie schlagen Muster vor und vollziehen sie, damit sie von denen, die das Spiel spielen, irgendwie bewohnt werden können“. Seine literarischen Ursprünge findet der Faden jedoch schon früher. Die Redewendung „Am seidenen Faden hängen“ entspringt der Geschichte des

Damokles Schwerts aus der griechischen Antike. Hier verwandelt sich der Faden in das Instrument eines Machtspiels und betont damit die Fragilität des menschlichen Seins.

 

Wir stellen uns die Frage, wer in unserem gesellschaftlichen System überhaupt die Macht hat, mit Fäden zu spielen. Und wenn wir uns tatsächlich in einem aus Fäden gesponnenen, Netzwerk befinden, an welchem Faden hängen wir dann, kollektiv und individuell? Alle Menschen

sind zwar durch ein Netzwerk miteinander verbunden, wie Haraway das anklingen lässt. Aber das Netzwerk ist weder ein Spiel noch frei.

Es ist ein hierarchisches Netz, in dem sich manche Menschen ermächtigen und andere Menschen gefangen halten – um sie am seidenen

Faden baumeln zu lassen. Der Faden ist also ein Symbol der Macht und der Abhängigkeit.

 

Im Grunde hängt alles Lebendige am seidenen Faden. Doch nicht alle Fäden werden unter denselben Bedingungen hergestellt. In einem Netzwerk der Fäden, in dem wir koexistieren, sind wir anderen ausgeliefert und nur zu sehr geringen Teilen selbstbestimmt. Woran unser Faden hängt, welche Verknotungen er eingehen kann, wer ihn kreuzt, beeinflusst unser Leben. Kapital, Herkunft, Geschlecht, usw. bestimmen die Konstitution unseres Fadens und entscheiden darüber, wie dick, dünn, dehnbar oder stabil er ist – und vor allen Dingen, wo er startet. So hat beispielsweise ein weißer, heterosexueller cis- Mann aus dem globalen Norden einen vollkommen anderen Start- und Ankerpunkt als eine schwarze, queere Frau aus dem globalen Süden. Und das traurige Paradoxon müssen wir spätestens dann erkennen, wenn wir uns fragen: Wer produziert denn den Faden? – und spinnen ihre Fäden noch heute.

 

Am Ende sitzt nämlich jene Frau in Bangladesch zu menschenunwürdigen Bedingungen an ihrer Nähmaschine und spinnt täglich unser Garn. Auch kunstgeschichtlich betrachtet, war die Arbeit mit Textilien stets eine, die weiblichen Künstlerinnen zugesprochen und abgewertet wurde.

Und wenn wir Care-Arbeit und weiblich sozialisierte Rollenzuschreibungen betrachten, tauchen in der Sorge und Pflege allerlei Fäden auf. Im Zudecken und Einwickeln, im Ankleiden und Warmhalten. Patriarchale, kapitalistische und koloniale Strukturen haben das Faden-Netz erbaut – und spinnen ihre Fäden noch heute.

 

Fäden verbinden uns mit der Welt, in der wir uns befinden. Dies schließt nicht nur menschliches Leben und gesellschaftliche Systeme ein, sondern ebenso unsere Umwelt – unser ökologisches System. Weil wir in der Welt sind, können wir uns den Systemen und Strukturen, in denen wir leben, kaum entziehen. Und wir brauchen den Faden, ob wir wollen oder nicht, weil uns der Faden auch an fundamentale Grundrechte und lebensnotwendige Ressourcen anbindet. Im Fadenspiel geht es folglich nicht einzig um gedankenreiches Fabulieren, sondern

vielmehr um das Bewahren oder Vernichten der Existenz.

 

Der Faden wird allerdings nicht erst relevant, wenn er über Existenz oder Nicht-Existenz entscheidet. Fäden sind auch Möglichkeiten: Sie geben Richtungen vor und können ein Gefühl von Stabilität vermitteln. Gleichzeitig kann das jedoch auch dazu führen, dass uns der Faden lenkt und uns im Extremfall wie eine Marionette an den Strippen tanzen lässt.

 

Doch ist das Durchtrennen des Fadens immer etwas Negatives? Was passiert, wenn der Faden abbricht? Können wir als Menschen dann wieder neue Fäden spinnen? Sind wir plötzlich abgekoppelt vom System der Macht? Und wollen wir überhaupt an die Macht gekoppelt sein? Bedeutet der Besitz eines stabilen Fadens Freiheit und Sicherheit? Oder ist es umgekehrt, und erst die Abwesenheit des Fadens macht uns unabhängig und frei?