Identität

Wo kommst du eigentlich her? – Nein, woher kommst du wirklich?

 

Mithu Sanyal: Identitti


von Jonathan Gaus

 

 

IDENTITÄT

 

 

 Wenn Sie die Sätze "Wo kommst du eigentlich her? - Nein, woher kommst du wirklich?" als problematisch ansehen, dann haben Sie in Ihrem Leben entweder schon selbst Ausgrenzungserfahrungen gemacht oder aber die wachsende Awareness für Minderheiten seit dem 20. Jahrhundert hat dazu geführt, dass Sie sich einen sensibleren Sprachgebrauch angeeignet haben. In beiden Fällen haben Sie eine grobe Vorstellung von dem, was als Diskriminierung bezeichnet wird. Doch reicht das aus? Kann eine weiße Frau, deren Familie seit jeher auf deutschem Boden gelebt hat, jemals richtig verstehen, was Diskriminierung bedeutet? Wie sie sich anfühlt? In ihrem 2021 im Hanser Verlag erschienenen Roman Identitti nähert sich Mithu Sanyal dieser Thematik mit der Hilfe von zwei Figuren: Oluchi und Saraswati. Sie verkörpern jeweils ein Extrem dieser Debatte, hier trifft Cancel Culture auf kulturelle Aneignung.


Die Hauptfigur des Romans ist die 26-jährige Nivedita Anand. Aus ihrer Perspektive erhalten wir Einblicke in das Studierendenleben im Düsseldorf der Gegenwart. Die Protagonistin befasst sich im Laufe der Geschichte nicht nur mit ihrem Studienfach Postcolonial Studies, sondern postet auch in regelmäßigen Abständen unter dem Pseudonym Identitti ihre Gedanken zu Feminismus, Rassismus, Identität und ganz allgemein zu Allem, was sie als in Deutschland lebende Person of Color bewegt. Die Schlüsselfigur des Romans ist die Professorin Saraswati. Die Dozentin verbalisiert und analysiert in ihren Seminaren eben jene Probleme, die Nivedita und ihre Kommilitoninnen schon ihr ganzes Leben fühlen, für die sie aber selbst nie die passenden Worte gefunden haben. Sie ist durch ihre Hautfarbe nicht nur eine Identifikationsfigur, sondern mit ihrem Wissen und ihrer Schlagfertigkeit auch ein Vorbild, fast schon Idol, für die Gruppe rund um Nivedita. Dieses Weltbild kollabiert jedoch als publik wird, dass Saraswati in Wahrheit gar nicht „eine von ihnen“ ist. Ihr richtiger Name lautet Sarah Vera Thielmann und ihr Aussehen hat sie durch diverse chirurgische Eingriffe verfremden lassen.

 

Niveditas Welt steht daraufhin Kopf. Im Netz entfesselt sich eine regelrechte Hexenjagd mit dem Ziel Saraswati und alles was mit ihr in Verbindung steht zu canceln. Insbesondere Niveditas Mitbewohnerin Oluchi ist eine Wortführerin dieser Bewegung. Als dunkelhäutige, junge Frau mit afrikanischen Wurzeln fühlt sie sich durch Saraswatis Betrug persönlich angegriffen. Sie ist der Ansicht, dass „Biogenetik [sowie] die Geschichte von Versklavung und Entrechtung [eben doch] eine Rolle […]“ spielen (S. 246).

Die Dozentin reagiert auf diese Vorwürfe mit einem Vergleich. Dass Menschen die ihnen zugewiesene Kategorie wechseln wollen ist nichts Neues: Warum ist Transgender-sein im Allgemeinen akzeptiert, während Transracial-sein als Cultural Appropriation generell missbilligt wird? Thielmann bezeichnet den Shitstorm um ihre Person als unbegründet und schon in wenigen Jahrzehnten wird man sich fragen: „[…] warum wir uns so darüber aufgeregt haben […]“ (S. 246).

 

Die Debatte gerät an dieser Stelle in eine Sackgasse. Beide Standpunkte sind nachvollziehbar und die Argumente schaffen es nicht sich gegenseitig aus den Angeln zu heben. Für den Rezipienten geht der erste Reflex trotzdem in Richtung der jungen Afrikanerin: Sie, ihre Familie, ihre Vorfahren und ihr Volk sahen sich Zeit ihres Lebens mit der Unterdrückung und Diskriminierung durch Weiße konfrontiert. Was wäre man als Mensch mit heller Hautfarbe – in diesem Kontext als Täter/in – schon für eine Person, wenn man einer dunkelhäutigen Person – also einem Opfer von Diskriminierungserfahrungen – die Deutungshoheit in dieser Angelegenheit abspricht? Egal wie man es dreht und wendet: Dass Thielmann überhaupt zur Diskussion antritt und nicht von vornherein Oluchi das Feld überlässt, macht sie zur Persona non grata. Doch ist dieser erste Reflex nicht der eigentliche Kern von Rassismus? Sehen wir an dieser Stelle offensichtlich nicht zwei Menschen, die gleichwertige Argumente austauschen, sondern ein dunkelhäutiges Opfer und eine hellhäutige Täterin? Machen wir aufgrund der Hautfarbe nicht einen Unterschied? Auch wenn es zunächst kontraintuitiv erscheint müssen wir wohl alle Argumente, welche nicht die eigentliche Position des Gegenübers betreffen, sondern auch die Referentinnen selbst, ausblenden.

 

Was bleibt von dieser Diskussion dann noch übrig? Oluchi spricht von „[…] Erfahrungen, die wir bis in unsere Zellen hinein spüren können […]“ (S. 246). Wenn Sarah Vera Thielmann als Saraswati Diskriminierungserfahrungen gemacht hat, dann wusste sie tief in ihrer Seele, dass sie nicht als das geboren wurde, wofür sie diskriminiert wurde. Dieser Umstand hat zur Folge, dass die Anfeindungen überhaupt ihre erschütternde Kraft verlieren. Oluchi veranschaulicht dieses Problem indem sie die Situation umdreht: „Wir können uns noch so weiß anmalen und würden unsere Entrechtung noch immer in unseren Knochen spüren.“ (S. 246). Saraswati entgegnet auf diesen konkreten Vorwurf, dass Nicht-Weiß sein mehr als die Summe der

gesammelten Negativerfahrungen ist: „Wenn Nicht-Weißsein Diskriminierungserfahrungen bedeutet und nichts weiter, dann bedeutet das auch, dass ihr euch an diesen Diskriminierungserfahrungen festhalten müsst. […] Denn nur sie definieren dann, was ihr seid […]“ (S. 247). Eine provokante These, für die sie postwendend kritisiert wird: „Das ist die Definition von White Privilege: dass eine weiße Frau uns erklärt, was Rassismus ist […]" (S. 248).

Eine viel aufschlussreichere Antwort liefert Saraswati an anderer Stelle: „Genau wie sex ist race etwas, was wir tun, und nichts, was wir haben.“ (S. 244). Die Professorin setzt mit dieser These das biologische Geschlecht (engl. sex) mit dem sozialen Geschlecht (engl. gender) gleich. Damit lässt sie tief blicken: Für Saraswati steht offensichtlich das soziale Geschlecht als identitätsstiftende Komponente im Vordergrund. Überträgt man das auf den race-Diskurs wird klar, warum die Professorin Argumente wie „Biogenetik“ und „Geschichte“ nicht gelten lässt: Sie sieht bei race, ähnlich wie bei sex, ausschließlich die unabhängig vom Körper gelebte Wahrheit. Letztendlich entscheidet sich für Außenstehende der Konflikt wohl daran, ob sex und race auf die Art und Weise miteinander vergleichbar ist, wie es die Professorin zu begründen versucht.

 

Was denken Sie?