Diskriminierung

"Boah, stinkts hier. Scheiße, dass man die Fenster im Bus nicht aufmachen kann." Ich drehte mich nicht um. Ich tat so, als hörte ich es nicht.

 

Dilek Güngör: Ich bin Özlem


von isabella Kratzberg


Was kann die (zeitgenössische) Literatur tun, um möglichst viele Menschen anzusprechen und hinsichtlich Diskriminierungen zu sensibilisieren? Und wo stößt Ihrer Meinung nach Literatur an ihre Grenzen, wenn Menschenrechte thematisiert werden?

 

Sprache, Worte und Ausdrucksweisen spielen eine große Rolle innerhalb von Diskriminierungserfahrungen im Alltag, was auch in Dilek Güngörs Ich bin Özlem deutlich wird. Dabei dient die Protagonistin Özlem als Beispiel dafür, dass Diskriminierungen nicht nur durch Andere entstehen, sondern dass sich ‚selbstdiskriminierende‘ Gedanken auch von innen heraus entwickeln können, beispielsweise als Reaktion auf Traumata.

 

 

Im Roman Ich bin Özlem ist die Ich-Perspektive entscheidend dafür, dass sich Leser:innen besser in Özlems Situation und ihre Diskriminierungserfahrungen hineinversetzen können. Die Handlung besteht aus Aneinanderreihungen zwischen Geschehnissen aus der Gegenwart sowie Rückblenden in Özlems Vergangenheit. In den Rückblicken reflektiert die Erzählerin über Ereignisse aus ihren Teenager-Jahren in ihrer türkischen Familie und ihrem deutschen Umfeld. Besonders Gerüche von Nahrungsmittel dienen als ‚Trigger‘ und beeinflussen Özlems Gegenwart. So versucht sie, anhand von Gerüchen ihre Traumata aus der Kindheit und Jugend zu verarbeiten. Gerüche dienen als Erinnerung an ihre türkischen Wurzeln, sie verhandeln die Frage ‚was heißt es, deutsch zu sein?‘ und sie stehen für Özlem eine gewisse Sauberkeit. Es wird eine Differenz geschaffen zwischen ihr – die sich schmutzig fühlt – und ihren deutschen Freund:innen, die sie nicht als schmutzig wahrnimmt. Letzteres wird in der Szene deutlich, in der Teenage-Özlem im Schulbus von ihrem Mitschüler beleidigt wird: „‘Boah, stinkts hier. Scheisse, dass man die Fenster im Bus nicht aufmachen kann.‘ Ich drehte mich nicht um. Ich tat so, als hörte ich es nicht.“


Zwei Stunden […] habe ich in der Küche gestanden und gekocht, jetzt sitzen wir alle um den Tisch, trinken Wein, allen schmeckt es, aber mir ist zum Heulen.

 

Drei Töpfe gleichzeitig auf dem Herd und dann noch ein Brot im Ofen, woher [sollen meine Freund:innen] wissen, dass ich nur so tue, als hätte ich alles im Griff?

 

Tatsächlich scheint Özlem nicht den Eindruck zu haben, sie hätte ihr Leben im Griff. Trotz perfekten Deutschkenntnissen und ihren Bemühungen, sich an die ‚deutsche‘Mentalität anzupassen, ist Özlem nicht ‚angekommen‘. Aber was heißt es eigentlich, angekommen zu sein? Laut Franziska Becker sind Personen ‚angekommen‘, wenn sie nach einer Migration am Zielort Fuß gefasst haben und sich dort heimisch fühlen. Sie verweist darauf, dass ein ‚Nicht-Angekommensein‘ schwere Folgen mit sich tragen kann, wie „einen beunruhigenden persönlichen Schwebezustand […], der durch die Migration ausgelöst wurde und im Aufnahmeland auf unbestimmte Zeit andauert.“ Ein Schwebezustand lässt sich auch bei Özlem erkennen. Da sie sich weder der deutschen noch der türkischen Kultur vollkommen zugehörig fühlt und viele Dinge als ‚türkisch‘ deutet, obwohl sie von der Außenwelt nicht so gesehen werden, scheint sie im Sinne Beckers noch nicht ‚angekommen‘ zu sein. Becker differenziert in ihrer Aussage jedoch nicht zwischen der eigenen Migration einer Person und der Migration von anderen Personen aus dem unmittelbaren Umfeld, wie beispielsweise den Eltern.

 

Laut Chandrima Karmakar gibt es einen Unterschied zwischen der ersten und zweiten Migrationsgeneration. Während die erste Generation auch nach der Migration an den Zielort eine starke Verbundenheit mit Heimatland, -kultur und -sprache verspürt und Kontakte zur Heimat aktiv aufrechterhält, könne die zweite Migrationsgeneration mit Bräuchen und Essensgewohnheiten aus dem Land ‚ihrer Wurzeln‘ weniger anfangen als ihre Eltern. Karmakars These bestätigt sich bei einer Betrachtung von Özlem und ihren Eltern: Während Özlem aktiv versucht, sich in die deutsche Sprache und Kultur einzugliedern und den Kontakt mit ihren Verwandten aus der Türkei bis auf Urlaubsbesuche wenig aufrecht erhält, haben türkische Traditionen und die türkische Sprache für Özlems Eltern auch nach ihrer Migration einen hohen Stellenwert.

 

Dilek Güngörs Ich bin Özlem kann zusammenfassend als Versuch der zeitgenössischen deutschen Literatur gesehen werden, Diskriminierungen im Alltag zu verarbeiten. Güngörs Werk dient als Brücke, um mit Literatur über Menschenrechte nachzudenken. Özlems erlebte Diskriminierung prägen ihre Selbstwahrnehmung und Identitätsfindung. Zwischen Deutsch- und Türkischsein, zwischen ‚Vesper‘ und warmem Abendessen findet sich eine zwiegespaltene Protagonistin:

 

„Wie verschiebe ich denn meine Perspektive, wenn mein ganzes Denken davon bestimmt ist? Wenn es in meinem Kopf diese beiden Kategorien gibt, Deutsch und Türkisch. […] Meine Trennlinie schlängelt sich wild durch Sprache, Kultur und Staatsangehörigkeit. Beides ist mir nah und vertraut, […] beides zieht mich gleichermaßen an und stößt mich ab.“

 

Ich denke bei diesem Buch immer an den Song Dystopia des Hip-Hoppers Disarstar.

Er singt: „Ich kann die Luft hier kaum noch atmen. Und dennoch ist das hier mein Platz. Manchmal fühlt sich's an wie warten. Doch das ist alles, was ich hab'. […] Mach' so viele Schritte, komm' keinen voran. Bin ich stehen geblieben? Wann ist der Rest der Welt weitergegangen?“

 

Interpretieren Sie die Verse aus dem Song anders? Erkennen Sie, dass das ‚Ich‘ aus dem Lied und das ‚Ich‘ der Protagonistin Özlem beide ‚stecken geblieben‘ und von negativen Ereignissen aus ihrer Vergangenheit vorbelastet sind? Schauen sie sich die Verse „[u]nd dennoch ist das hier mein Platz, […] wann ist der Rest der Welt weitergegangen?“ an: Beide ‚Ichs‘ sprechen über das Ankommen beziehungsweise ihren Platz in der deutschen Gesellschaft. Sie sehen sich jedoch nicht auf der gleichen Ebene wie ihr Umfeld, welches bereits ‚weitergegangen‘ ist.